Ein hochsensibler Blick auf das Jetzt zwischen dem Davor und dem Danach von Sabrina Görlitz.
Letztes
Jahr, mitten an einem grauen, aber milden Novembertag entdeckte ich mit großem
Erstaunen an gleich mehreren Kirschblütenbaumen in St. Pauli die ersten kleinen
Knospen. Es sah zwar irgendwie „falsch“ aus, und natürlich dachte ich gleich an
den Klimawandel, doch mir gab dieses blasses Rosa unter dem tiefgrauen Himmel
auch ein gutes Gefühl.
Mein Vater war vor ein paar Monaten gestorben, und mir stand der Winter mit all
seinen omnipräsenten Feierlichkeiten bevor, aber dieses zaghafte
Frühlingserwachen, noch bevor der Winter überhaupt angefangen hatte, war wie
ein kleines Zeichen, dass ich ihn schon irgendwie gut überstehen würde.
Den ganzen Winter über trieben immer mehr Blüten aus. Zwar blieben sie klein
und blass, doch es war, als sandten sie mir jedes Mal, wenn ich an meinem
Einkaufsweg Richtung Altona an ihnen vorbeistapfte, einen stillen
pastellfarbenen Gruß durch das trübe Grau.
Jetzt,
Mitte März ist es auf einmal vorbei mit dem „Leise-vor-sich-hin-blühen“. Auf
einmal ist der Himmel blau und die Kirschblütenbäume in meiner Nachbarschaft stehen
in ihrer ganzen Glorie. Die Knospen sind vollends aufgegangen, die Blätter
erstrahlen in kräftigem Rosa. Auf einem Grünstreifen direkt neben dem jüdischen
Friedhof steht ein besonders prächtiges Exemplar, und ich beschließe, mich für
einen Augenblick an dem Stamm zu lehnen und den Anblick des Blätterdachs zu
genießen, wie ein Himmel voller pinkfarbener Sterne. Durchatmen.
Seit gestern stehen große Teil der Welt nahezu still. Der Corona Virus sorgt
dafür, dass alle buchstäblich den Atem anhalten. Das öffentliche Leben wurde
weitestgehend eingefroren, Schulen und Kitas sind geschlossen und jeder, der
kann, arbeitet von zuhause. So etwas hat sie noch nie erlebt, sagt meine
Mutter, und sie ist immerhin schon seit fast siebzig Jahren auf diesem
Planeten. Für meinen Sohn, fast sechs, ist es hingegen schon die zweite große
Krise in seinem kleinen Leben. Im letzten Sommer ist sein Opa gestorben, und
dieses Jahr müssen wir auf die Großeltern der anderen Kinder aufpassen. So
langsam komme ich mehr und mehr dahinter, dass beide Erfahrungen mehr miteinander
zu tun haben, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Das Kleine im Großen
und das Große im Kleinen – diese universelle Gesetzmäßigkeit finden wir auch inmitten
der Corona-Krise.
Wenn das vertraute „Davor“ aufhört zu existieren
Jeder
macht irgendwann in seinem Leben die Erfahrung, dass es Momente gibt, in denen
die Welt stillzustehen scheint. Nur für einen selbst. Meistens erleben wir
dieses Gefühl, wenn ein geliebter Mensch uns auf die ein oder andere Weise
verlässt, wenn eine Liebe zu Ende geht zum Beispiel, oder sogar ein ganzes
Menschenleben. Das sind die Momente, an die wir uns für den Rest unseres Lebens
erinnern werden. An den Augenblick, wo das vertraute „Davor“ auf einmal aufhört
zu existieren und das neue, unbekannte „Danach“ beginnt.
Als im Februar 2019 das Herz meines Vaters aus dem Nichts zu schlagen aufhörte,
und als in den darauffolgenden sieben Minuten bis zu seiner Reanimation sein
Gehirn unwiderruflichen Schaden nahm, wurde mein Leben von jetzt auf gleich
völlig auf den Kopf gestellt. Fast fünf Monate später starb mein Vater ein
zweites Mal, und diesmal war es für immer. Fünf Monate hatte sich die Erde
gefühlt in einem anderen Tempo bewegt als für alle anderen. Für den Rest der
Menschheit, so schien es, hatte sie sich weiter um die Sonne gedreht und für
mich nur um meinen Vater. Und als er ging, da stand sie auf einmal völlig still.
Ich fühlte mich wie in einer Blase, wie die Erzählerin aus Marlen Haushofers
„Die Wand“, allerdings mit dem seltsamen Twist, dass da anders als im Roman
durchaus Menschen um mich herum waren. Nur die Verbindung schien auf
unsichtbare Weise gekappt. Das Leben der anderen schien einfach weiterzugehen –
sie gingen weiterhin arbeiten, weiter einkaufen, weiter feiern. Ich empfand das
als Verrat. An mir, an meinem Vater und an all denen, die vor und nach ihm
starben. An all denen, die um diese Menschen getrauert hatten oder trauern
werden. Diejenigen, deren Welt eine Weile stillsteht, und die sich so wie ich
so seltsam ausgeschlossen fühlen, ohne dass es jemand wirklich mitzubekommen
scheint. Wenn die Welt sich für die anderen weiterdreht, so als wäre nichts
passiert.
Was wird man sich in hundert Jahren über den Corona Frühling 2020 erzählen?
Mein
Blick schweift von der Krone des Kirschblütenbaums rüber zum jüdischen
Friedhof. Von der Pest, die vor etwas mehr als 300 Jahren fast jeden siebten
Hamburger dahinraffte, wissen wir nur, was mit den Erkrankten passierte.
Sie kamen in Lazarette und sogenannte „Pesthöfe“, einen davon gabs auch hier
auf St. Pauli, und als diese nicht mehr ausreichten wurden ganze Straßenzüge zugenagelt
und die Kranken sich selbst und dem Tod überlassen. Wie diese Menschen sich
gefühlt haben, oder was ihre Familien oder ihre Geliebten durchmachen mussten,
die mitunter nicht mehr zu ihnen konnten – nun, das ist nicht überliefert und
lässt sich nur erahnen.
In spätestens hundert Jahren werden auch alle Zeitzeugen der aktuellen Corona-Krise
nahezu ausgestorben sein. Ich frage mich:
„Was wird man sich in hundert Jahren über
den Corona-Frühling 2020 erzählen?
Was wird in den Geschichtsbüchern zu lesen sein, wenn man uns nicht mehr fragen
kann? Was möchten wir, was in Erinnerung bleibt, von dem Moment, der das Davor
in das Danach teilte, und wie hat das Danach sich eigentlich angefühlt?“
Was
mich als Autorin an Hochsensibilität schon immer am meisten fasziniert hat, ist,
dass sie das große Potential in sich trägt, eine Geschichte unter einem
anderen, einem buchstäblich hochsensiblen Blickwinkel zu erzählen. Für mich persönlich
ist Hochsensibilität zuallererst eine (Geistes)Haltung, mit der ich durchs
Leben gehe. Je nachdem, wie weit ein Mensch auf seinem persönlichen
Bewusstseinsweg bin, kann dies ganz lange eine hidden agenda sein, die er
oder sie selbst noch nicht ganz durchschaut haben, oder eine klare Mission, die
einem Leben Sinn und Bedeutung verleiht, und dabei immer auch die ganze
Gesellschaft im Blick hat. Meine Mission ist es, nach der Geschichte hinter der
Geschichte zu forschen, nach der „Story hinter dem Plot“ sozusagen. Dabei erhebe
ich keinen Anspruch auf Wahrheit, ich suche einfach die Geschichte, die die Menschen
über die Fakten und das reine Ursache-Wirkungs-Prinzip hinaus berührt und
verbindet. Gibt es eine Botschaft hinter dem Offenkundigen, einen Gedanken, der
bleiben darf, wenn der Corona Virus vorerst wieder das Weite gesucht hat?
Ich meine damit nicht die „Moral von der Geschicht“: Dass es nicht gut ist,
exotische Wildtiere zu essen, oder in China günstig produzierte Kleidung teuer
in Italien zu verkaufen. Dass die Massenquarantäne gut für die Klimabilanz ist,
oder dass wir die Schließzeiten nutzen sollten, um mehr Quality-Time mit
unseren Kindern zu verbringen. Dass die Zwangsentschleunigung das ist, wonach
sich doch eigentlich so viele sehnen. Ursachenforschung in der Vergangenheit
und Erkenntnisse für die Zukunft sind eine Sache. Aber jetzt gerade,
jetzt gerade haben viele Menschen einfach bloß Angst. Um sich selbst, um ihre
älteren Angehörigen, oder um ihre aufgrund von Vorerkrankungen
immungeschwächten Kinder. Und insbesondere in Italien gibt es viele Menschen, die
sterben jetzt, und können sich wie damals zu Zeiten der Pest nicht von
ihren Liebsten verabschieden, weil außer Klinikpersonal in apokalyptisch
anmutenden Schutzanzügen niemand zu ihnen kommen darf. Auch in Deutschland
werden Menschen sterben. Und es gibt Menschen, die um sie trauern werden, und
für die sie so viel mehr sind als nur die „Alten und Geschwächten“. Sie sind
jemandes Vater, Mutter oder Großeltern. Da kann es jetzt nicht nur darum gehen,
dass doch alles aus einem Grund passiert, und erst recht nicht darum, sich die
Dinge schön zu reden.
Corona passiert uns jetzt gerade allen gleichzeitig
Nutzen wir diesen Moment, hier im Jetzt zwischen dem Davor und dem Danach, in dem die Welt für uns alle so unfassbar flächendeckend stillzustehen scheint, uns genau diesen Zustand ganz bewusst zu vergegenwärtigen. So fühlt es sich nochmal an, wenn wir uns im wahrsten Sinne des Wortes ausgebremst und handlungsunfähig fühlen. Wenn wir nicht wissen, wie es weitergehen soll. Welchen Schritt wir als nächstes tun sollen. Nur diesmal sind wir nicht allein damit. Diesmal geht kaum noch jemand weiter einkaufen, weiterarbeiten, weiter feiern, so als wäre nichts geschehen, als würde nichts geschehen. Corona passiert uns jetzt gerade allen gleichzeitig. Die wenigsten von uns werden dabei – hoffentlich – ernsthaft krank werden. Und doch betrifft es uns alle, weil wir eben nicht so weitermachen können wie bisher. So wie wir doch sonst immer einfach weitergemacht haben, an jedem x-beliebigen Corona-freien Tag. An all den Tagen, an denen für tausende Menschen still und leise und von den Massen unbemerkt die Welt stillstand. Weil sie ihren Job verloren haben, eine Fehlgeburt erlitten, oder der Partner mit ihnen Schluss gemacht hat. Oder weil jemand, der ihnen die Welt bedeutet hat, gestorben ist.
Dieses Gefühl der Ungläubigkeit, dass das jetzt wirklich alles gerade passiert, und vor allem mir, die Ungewissheit, wie lange es anhält, die Unvorhersehbarkeit des ganzen Ausmaßes, die Unplanbarkeit der nächsten Tage. All das habe ich im letzten Jahr „im Kleinen“ erlebt, als mein Vater von jetzt auf gleich so schwer krank wurde. Und dann, erst zögerlich und äußerst vorsichtig, habe ich aus der Schockstarre heraus wieder einen Fuß vor den anderen setzen können und mich Stück für Stück im „Danach“ zurechtgefunden – der Ort, der mir anfangs so viel Angst gemacht hat. Über weite Strecken war ich allein, trotz all der Menschen um mich herum, denn nur ich musste mich neuorientieren, in einer Welt ohne meinen Papa.
Einen unfreiwilligen Schubs vom Davor ins Danach, das ist genau das, was wir jetzt alle „im Großen“ erfahren, und zwar im Kollektiv. Das ist die Geschichte hinter Corona, oder zumindest eine: Dass für einen kleinen Augenblick in der großen Menschheitsgeschichte so viele Menschen auf einmal das Gefühl haben, dass die Welt still zu stehen scheint. Das ist das, was jetzt gerade in uns passiert, unabhängig davon, was im außen den Corona-Virus ausgelöst hat oder wer oder was dafür sorgen wird, dass er hoffentlich schon bald wieder verschwinden wird.
Sich an das Gefühl erinnern, das uns jetzt miteinander verbindet
Wenn wir dieses Gefühl für das „Danach“ konservieren können, und es nicht sofort wieder vergessen, wenn alles wieder in Bewegung gekommen ist, dann sind wir in einer Zeit, in der doch alle voneinander Abstand nehmen, vielleicht doch ein wenig enger zueinander gerückt. Wenn wir dann, wenn alles wieder in geregelten Bahnen läuft und wir uns wieder in einer kollektiven Sicherheit wiegen, die es für den Einzelnen nie geben kann, dieses Gefühl abrufen können, wenn es gebraucht wird – dann wird von Corona viel mehr bleiben als die Zahlen und Fakten, die nach dem Ende der Pest in die Geschichtsbücher notiert wurden.
Dann wird sich der ein oder andere das nächste Mal, wenn seine kleine heile Welt in tausend Scherben zerbricht und für einen Moment stillzustehen scheint, vielleicht ein Stückchen weniger allein fühlen. Weil die Menschen in seinem Umfeld einen Augenblick innehalten und sich an dieses Gefühl erinnern werden, das uns jetzt gerade noch alle miteinander verbindet. Dann werden sie wieder eine Ahnung davon bekommen, wie es dem Einzelnen geht, und der Einzelne wird spüren, dass sich die anderen erinnern. Daran, wie es sich angefühlt hat, als im Frühling 2020 der Corona Virus die Welt anhielt. Und vielleicht auch daran, dass ausgerechnet dann, als es so richtig still wurde, die Kirschblütenbäume um die Wette geblüht haben. Wie ein Indiz dafür, dass selbst inmitten der größten Krise der Samen für den Neuanfang im Danach längst gesät ist.
Autorin: Sabrina Görlitz
Wundervoll berührend gepaart mit einer tiefen Wahrheit. Danke für die Gewissheit, dass es im großen Ganzen ein gesundes Miteinander geben kann. Es liegt an und in uns!
Ich fühle mich gerade sehr verbunden, liebe Sabrina. Auch mein Papa ist kurz vor Corona gestorben und meine Mam 3 Monate zuvor. Sie, die letzten Jahr als Pflege-„Fall“ im Seniorenzentrum und er mit 90 „eigentlich“ noch ganz fit, aber schon länger ohne Lebensmut und -freude. Wir konnten beide auf dem letzten Stück des Weges begleiten – sie im Seniorenzentrum, ihn auf der Intensivstation des Spitals. Ich bin so dankbar, dass diese möglich war und kann so gut die Tragik der Isolation in diesen Zeiten nachvollziehen.
Das DAVOR fühlt sich für mich inzwischen fast unwirklich an, ein DANACH gibt es auch nach einem Jahr immer noch nicht wirklich.
Das JETZT ist wichtiger denn je – vielleicht ist das die wichtigste Botschaft, welche uns die Lehrmeister Tod und Coroan für uns haben.