Pathologisches Sammelsurium oder Beschaffenheit – Ist Hochsensibilität eine Diagnose?

Autorin: Mechthild Rex-Najuch

Die Frage ist nicht die einzige, die sich um das Wort Hochsensibilität rankt. Wie immer, wenn sich ein neues Wort in einem Fachgebiet etablieren soll, ist eine eindeutige Definition vonnöten. Um diese wird immer noch gestritten. Um das gleich vorwegzunehmen: Hochsensibilität ist ein Persönlichkeitsmerkmal und kein Krankheitsbild. Es beschreibt im Wesentlichen die komplexere Wahrnehmung und Verarbeitung von Sinnesreizen auf neurophysiologischer Ebene. Die begriffliche Unschärfe sorgt dafür, dass ein Persönlichkeitsmerkmal mit Krankheitsbildern verschwimmt. Hochsensibilität ist nicht zu verwechseln mit Hypersensibilität, die beispielsweise durch ein Trauma entstehen kann. Solche Unschärfen wirken sich in der Behandlung erkrankter hochsensibler Menschen nachteilig aus, weil sie an den Erfordernissen der Patienten vorbeiarbeiten.

Ein Begriff entsteht

In der Geschichte der Psychologie wurden schon seit dem frühen 20. Jahrhundert Beobachtungen zu diesem Phänomen aufgeschrieben. Die Psychologin Elaine Aron, die den Begriff Highly Sensitive Person (HSP) prägte, hat ihn nicht vollkommen neu erfunden. Vor ihr beobachteten Größen wie C.G. Jung, Jerome Kagan, Alice Miller und Iwan Petrowitsch Pawlow unterschiedliche Empfänglichkeit innerhalb der Spezies Mensch – um die theoretisch fundierte Basis wird jedoch weiterhin gerungen. Vor mehr als 20 Jahren hat Elaine Aron die Erforschung dieses Themas zu ihrer Lebensaufgabe gemacht. Nach einer Operation hatte sie mehr Beschwerden als ihr behandelnder Arzt für angemessen hielt und deswegen empfahl er folgerichtig eine Psychotherapie. Bereits hier wird eine Herausforderung auch in der Forschung deutlich: Was ist normal, angemessen oder eben nicht? Diese Begrifflichkeiten sind erheblich von der persönlichen Einschätzung des Behandlers abhängig, weil sie schlicht und einfach nicht wirklich messbar sind. Alle Versuche Schmerzempfinden abzubilden unterliegen subjektiven Skalen, die letztendlich nur eine Orientierung ermöglichen – und zwar für den Therapeuten. Genauso verhält es sich mit der Einschätzung von Sensibilität.

Arons damalige Therapeutin gab ihr den Hinweis, sie wäre nicht gestört, sondern möglicherweise hochsensibel. In Ermangelung einer eindeutigen Definition machte sich Aron selbst auf den Weg, genau diese zu schaffen. Als Forscherin war sie keine Anfängerin. Zusammen mit ihrem Ehemann gehört sie zu den führenden Wissenschaftlern bei der Erforschung der Psychologie der Liebe und enger Beziehungen. 1991 begann sie mit der Sammlung der Daten von tausenden von Menschen, die sich für sehr sensibel hielten – anhand von Fragebögen. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit fasste sie in einem Buch zusammen, dass sie 1997 veröffentlichte.

Bis heute gilt dieses Buch The Highly Sensitive Person als das Standardwerk zum Thema Hochsensibilität (HS). Leider wird der zugrunde liegende Fragebogen auch im klinischen Alltag angewendet. In Ermangelung einer echten Alternative ist das zwar nachvollziehbar, doch suboptimal. Denn dieser Fragebogen wurde für ein Studiendesign entworfen, also für vollkommen andere Bedingungen als der Alltag einer HSP sie mit sich bringt. Für Behandler ist es deswegen wichtig, diesen Test und seine Ergebnisse entsprechend zu relativieren. Er kann nur Wahrscheinlichkeiten erfassen oder die jeweilige Realität spiegeln helfen, mit der HS sich durch das gesamte Leben der HSP zieht. Um mit einer HSP umgehen zu können, ist es nicht zwingend erforderlich, selbst eine zu sein. Umgekehrt findet sich in den Reihen von Therapeuten eine große Gruppe Menschen, die viele Merkmale von HS in sich vereinigen.

Der von Elaine Aron unterstützte Dokumentarfilm Sensitive – The Untold Story erschien 2015 und vermittelt dem Interessierten, unabhängig von seiner Beschaffenheit, einen nachvollziehbaren Eindruck der Lebensrealität von HSP.

Erklärungsmodelle

Da die Hochsensibilitätsforschung noch in den Anfängen ist, fehlt die allgemein anerkannte neurowissenschaftliche Definition des Phänomens, aber es gibt viele Hinweise, die helfen, sich dem Thema anzunähern. Derzeit geht man in Neurowissenschaft und verwandten Disziplinen von folgendem Erklärungsmodell aus.

Thalamus und Inselregion sind bei HSP vernetzter verschaltet und lassen mehr Informationen hindurch als üblich. Was bedeutet das konkret? Die Aufgabe des Thalamus ist die Modulation ein- und ausgehender Signale zur Großhirnrinde und er wird nicht umsonst als das Tor zum Bewusstsein bezeichnet. Mit mehr als hundert Kerngebieten kann eine komplexe Verbindung zur Hirnrinde unterstellt werden. Diese sorgen für die Verarbeitung motorischer Signale, Tastsinn und kognitive Fähigkeiten. Auch finden sich hier Umschaltstellen für sensible Signale der Tiefensensibilität, des Tastens, des Sehens und Hörens. Hinzu kommt die neuronale Steuerung des Bewusstseinszustands, der Wahrnehmung, für Gedächtnis, Sprache, Erkennung und die Funktion des limbischen Systems.

Allein diese Zusammenfassung von Funktionen des Thalamus legt schon nahe, dass bei HSP eine erhöhte Vernetzung vorliegen muss, um die verstärkten Reaktionen erklären zu können. Doch auch ohne Symptome im eigentlichen Sinne, also im Sinne einer Pathologie, lässt sich im Thalamus Hochsensibler mittels Positronen-Emissions- Tomographie (PET) eine strukturelle Veränderung nachweisen. Im Sinne der Neuroplastizität ist jedoch auch die Frage berechtigt, was Ursache und was Wirkung ist – die veränderte Hirnstruktur oder das veränderte Verhalten? Elaine Aron verweist in diesem Zusammenhang auf die Zwillingsforschung, derzufolge in Familien, in denen Hochsensibilität vorkommt, meist auch eine signifikante Häufung von Hochsensibilität zu beobachten ist, was für einen genetischen Einfluss spricht. Ihren Angaben zufolge sind etwa 15 – 20 % der Bevölkerung hochsensibel.

Ein Blick auf die Aufgaben der Inselrinde rundet das Bild neuronal zusätzlich ab; bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die reziproke Verbindung zur Amygdala, zur Großhirnrinde sowie zu funktionellen Teilen des limbischen Systems, nämlich den cingulären Rindenarealen. Noch sind die Leistungen der Inselrinde nicht vollständig geklärt, doch das, was bekannt ist, liest sich schon beeindruckend. Die Verarbeitung somästhetischer, kinästhetischer, akustischer, olfaktorischer, viszeraler und gustatorischer Reize findet hier statt. Hinzu kommen die emotionale Bewertung von Schmerzen, der Gleichgewichtssinn und empathische Fähigkeiten. Auch bei Liebes- und Lustempfindungen sowie bei auditivem
(insbesondere sprachvermitteltem) Denken ist eine Aktivierung der Inselrinde zu verzeichnen. Mit dem Wissen um die komplexe Vernetzung dieser Strukturen kann die Erlebniswelt, die Highly Sensitive Persons dem Praktiker präsentieren, nicht mehr als Hypochondrie bewertet werden.

Jeder kann krank werden, auch ein Hochsensibler

Obwohl also Hochsensibilität keine Erkrankung an sich darstellt, kann eine HSP erkranken – doch sie erlebt die Erkrankung anders. Alle Wahrnehmungen sind gemäß der hochsensiblen Beschaffenheit intensiver ausgeprägt und werden intensiver erlebt. Die Angaben sind schon bei Kindern verblüffend in ihrer Genauigkeit. Der fünfjährige Sven beschreibt den Ort, wo er seine Ängste wahrnimmt, am Gehirnmodell ganz differenziert. Sein kleiner Finger kann genau zeigen, welcher Gehirnbereich mitwirkt und welcher nicht. Er wirkt seltsam erwachsen bei gleichzeitig kindlicher Erscheinung und altersentsprechendem Verhalten. Während seine Mutter mit mir über ihn spricht, spielt Sven ganz versunken mit den Autos in meiner Praxis. Doch als ich ihn anspreche, steht er sofort zur Verfügung: „Kannst Du mir sagen, wo die Angst wohnt?“ Energisch macht er einen Kreis im oberen Kopfbereich: „Hier,“ antwortet er sehr bestimmt. Auf meine Nachfrage zeigt er am Modell genau Thalamus, Inselregion und Frontalhirn, also genau dort, wo die komplexere Vernetzung bei HSP gefunden wird. Meine Erklärung seiner Wahrnehmung stellt ihn zufrieden und er kehrt zurück zu seinem Spiel. Seine Mutter berichtet mit später, dass er viel weniger Ängste hat, seitdem er bei mir war. Sven ist ein kindliches Beispiel dafür, wie genaue Erklärungen für eine schnelle Regulation der wahrgenommenen Symptome sorgen und zwar mittels einer Neubewertung durch den Patienten.

Die Notwendigkeit alles zu verstehen

Im Krankheitsfall erlebt eine HSP ihre Symptome intensiver als andere Patienten. Sie wird deswegen genauer verstehen müssen, was mit ihr passiert und welche Maßnahmen aus welchem Grund ergriffen werden. Grundsätzlich profitiert zwar jeder Patient von dem Verständnis seiner Situation, jedoch ist die HSP aufgrund ihrer intensiven Reizverarbeitung darauf angewiesen, weil ihr empfindsames System sonst mit erheblichem Stress auf eine normale medizinische Situation reagiert. Bei Unverständnis ist keine angemessene Bewertung möglich. Daraus können Gefühle von Gefahr oder Angst entstehen, auf deren Boden sich schlussendlich massiver Stress entwickelt, was eine Behandlung immens erschwert. Denn das Gehirn feuert so lange, bis eine akzeptable Erklärung vorliegt. Folgerichtig muss die Aufmerksamkeit des Behandlers in seiner Arbeit mit erkrankten Hochsensiblen auf dem Erschaffen von Sicherheit liegen. Unter dem heute typischen klinischen Alltag ist das nicht immer möglich und auf diese Weise werden Fehldiagnosen wahrscheinlicher.

Bemerkenswert ist, wie Hochsensible, die in ihrer Beschaffenheit von Kind auf gefördert werden, sich auch unter Stress viel belastbarer präsentieren als Normalsensible. Dann sind sie belastbarer und auch gesünder als die meisten anderen Menschen. Umgekehrt wirken sich Störungen der hochsensiblen Beschaffenheit außerordentlich nachteilig auf die Gesundheit aus. Störungen entstehen durch Abwertung, Unverständnis, Dramatisierung oder Bagatellisierung und durch die Ängste und Unsicherheiten der Umgebungspersonen – auch das kann eine Herausforderung darstellen.

Stress ist die Grundlage für Krankheiten

Andreas P. (45) arbeitet im oberen Management einer großen Firma. Er wirkt verzweifelt. „Vor Ihnen sitzt ein gesunder Mann, dem es zunehmend schlechter geht.“ Ich warte, ob er weiterspricht, und betrachte sein Gesicht. Müde Augen, ein leicht zitternder Mund, Schweißtropfen über der Oberlippe und ein ausgeprägtes weißes Dreieck im Naso-Labial-Bereich sind ein deutlicher Ausdruck dafür, dass etwas nicht stimmt. Den Unterlagen der Kollegen konnte ich entnehmen, dass weder Auffälligkeiten im Labor, noch organische Beeinträchtigungen festgestellt worden waren. Danach galt er wirklich als gesund. Er ist schreckhaft, seine Sinne überscharf, sein Körper schmerzt und er ist erschöpft. Offensichtlich ist sein autonomes Nervensystem (ANS) irritiert. Nach genauer Anamnese komme ich zu dem Ergebnis, dass er hochsensibel ist – einer von denen, die sich mit dem Begriff nicht verorten würden. Seine Erlebniswelt ist vielmehr davon geprägt, dass ihm niemand glaubt, wie schlecht es ihm geht. Inzwischen stellt er sich, sein Leben und seine Wahrnehmung vollständig in Frage. Daraus entsteht ein immenser zusätzlicher Stress, der in Verbindung mit seiner hochsensiblen Beschaffenheit unerträglich wird. In seinem Job ist er mit seiner Beschaffenheit eigentlich gut platziert. Leider wird diese Qualität nach einem Führungswechsel nicht mehr bestätigt, vielmehr bekommt er permanent neue Anforderungen auf den Schreibtisch und kann sich nicht mehr mit den Werten seiner Firma verbinden. Ohne diese Anbindung kann er der Anforderung nicht mehr standhalten und bricht langsam zusammen. Weder Coaching noch Psychotherapie helfen – sie scheinen seine Schwierigkeiten sogar zu verstärken. Was ist passiert?

Sein Stress verstärkt seine Sinneswahrnehmung und erzeugt einen höheren Energieverbrauch (ATP). Unter diesen Bedingungen sind Eigenregulation, Reorganisation und Regeneration nicht möglich – ein Teufelskreis beginnt. Als Dauerzustand ist das schwer zu handhaben, denn um sein empfindsames System ausbalancieren zu können, entstand ein Mehrbedarf an Nährstoffen. Die Grundlagen zur Behandlung der mitochondrialen Dysfunktion waren hier sehr wertvolle Begleiter. Verhalten und Bewertung haben auf die psycho-neuro-immunologische Abstimmung erheblichen Einfluss. Deswegen war antifragile Training von Stress ein wichtiger Bestandteil seiner Therapie. Mit der Arbeit an seiner inneren Haltung lernte er seine Kräfte besser zu organisieren. Die Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens wird durch die Glücksforschung mit handfesten wissenschaftlichen Beweisen versehen. Auch in der Chronobiologie gibt es wichtige Ansätze. Andreas P. brauchte nicht mehr Pausen, sondern den richtigen Rhythmus. Doch die Lösung entstand vor allem, als es ihm gelang, mit den Werten seiner Firma wieder übereinzustimmen. Erst dann begannen alle anderen Maßnahmen Wirkung zu zeigen. Leider sorgt gerade die hochsensible Beschaffenheit dafür, dass mancher Zustand schon dramatisch erscheint, bevor er mit herkömmlichen Methoden nachweisbar ist. Hier sind biophysikalische Messverfahren hilfreich, insbesondere, wenn sie direkte therapeutische Konsequenzen beinhalten.

Zusammenfassung

Andreas P. reagiert wie viele andere mit einem Zusammenbruch auf Überlastung. Nur die Reihenfolge der Maßnahmen ist anders. Bei HSP greifen herkömmliche Methoden erst dann, wenn sie in Übereinstimmung mit sich und ihrer Umgebung sind. Reduziert man Menschen auf 70 Billionen Zellen, so wären wir alle ziemlich gleich. Doch die Realität ist anders: Jeder Mensch hat seinen Takt, seinen Rhythmus und seine Bedürfnisse. Diese zu erkennen ist wesentlicher Bestandteil von Heilkunst.

Autorin: Mechthild Rex-Najuch

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