Teil 1: Ein Persönlichkeitsmerkmal im Rampenlicht
Autorin: Mechthild Rex-Najuch
Möglicherweise begegnen Ihnen in der Praxis bei Patienten immer wieder Ungereimtheiten, obwohl Sie sich an Dosierungsempfehlungen und Richtlinien gehalten haben. Dahinter kann ein hochsensibler Mensch stecken. Dabei ist Hochsensibilität keine Diagnose, sondern ein Wesensmerkmal. Im ersten Teil gebe ich Ihnen eine Einführung zum Thema Hochsensibilität.
Hochsensibilität ist keine Diagnose, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, mit dem ein Mensch von der Natur ausgestattet ist. Ist es unveränderlich, hochsensibel zu sein? Macht Hochsensibilität schneller krank? Bis heute gibt es keine eindeutige Definition für Hochsensibilität im Sinne einer unbestechlichen Messung, stattdessen müssen Erfahrungswerte verwendet werden. Für die bessere Nachvollziehbarkeit beginne ich mit einem Ausflug in die Biografie der Psychologin Elaine Aron, die bis heute an ihrem Lebensthema forscht.
Beginn einer neuen Betrachtung
Als Elaine Aron nach einem medizinischen Eingriff nach Ansicht ihres Arztes überreagierte, schickte der sie zu einer Psychotherapie. Relativ früh gab die Therapeutin zu bedenken, dass Aron natürlicherweise hochsensibel sein könnte. Leider verfügte auch sie über keine Definition, sondern bezog sich mit ihrer Annahme auf ihre eigene Beschaffenheit und die ihres Mannes.
Das war der Startschuss wie aus der Psychologin Elaine Aron im Jahre 1987 die Forscherin Aron wurde. Denn in dem Augenblick erkannte sie die Möglichkeit, dass ihre Hochsensibilität nicht Ausdruck einer Störung sein könnte, sondern vielmehr Merkmal ihrer Wesensart. Wenn das stimmte, gäbe es möglicherweise viele Menschen, die genauso beschaffen wären. Diese Idee zu beweisen stellte sie vor die Herausforderung, einen eindeutigen Marker zu finden oder einen Test zu entwickeln, der sichere Ergebnisse brachte – ein Unterfangen, das bis heute eine Herausforderung darstellt.
Elaine Aron widmet sich dem Thema Hochsensibilität seit jenem Erkenntnismoment voller wissenschaftlicher Hingabe. In ihren ersten Literaturrecherchen stieß sie dabei auf den Psychiater C. G. Jung, der bereits zwischen 1921 und 1936 über Introvertiertheit schrieb. Grundsätzlich unterschied Jung zwei Pole der Persönlichkeit, nämlich Introvertiertheit und Extrovertiertheit. Sie stellen Wesensarten dar, die sich dadurch unterscheiden, wie die betreffenden Personen mit ihrem Umfeld und mit ihrer Umwelt umgehen. Introvertierte Menschen richten ihre Aufmerksamkeit vermehrt nach innen, extrovertierte hingegen tun das Gegenteil.
Beide Wesensarten haben Stärken und Schwächen. Mit seiner Arbeit wollte Jung einerseits eine kritische Psychologie gründen und gleichzeitig methodisches Handwerkszeug zur Verfügung stellen, um Ordnung in die Fülle der Phänomene zu bringen. Zusätzlich verfolgte er das Ziel mit diesem Werkzeug dem Behandler eine Möglichkeit zur Schärfung der eigenen Selbstwahrnehmung anzubieten, um leichter einen angemessenen Umgang mit dem Patienten finden zu können. Seine Überlegungen zur Typologie sind also primär als wissenschaftstheoretische Überlegungen zu verstehen, um die Fülle der Einzelbeobachtungen strukturieren zu können.
Methodisch ging auch Elaine Aron ähnlich wie Jung vor – sie beobachtete, sammelte Daten und versuchte dann die dahinter liegende Gesetzmäßigkeit zu finden. Um sich dem Thema besser annähern zu können, suchte sie zunächst auf dem eigenen Unigelände mittels Campus-Newslettern nach Menschen, die sich selbst für sehr empfänglich gegenüber Reizen hielten. Im Laufe der Jahre erweiterte sie ihre Forschung auf Gruppen außerhalb der Universität. Es meldeten sich verschiedenste Menschen, Frauen und Männer, angefangen von Teenagern bis hin zu 80-Jährigen, Künstler, Hausfrauen und Geschäftsleute.
Aus dieser Untersuchungsreihe entstand ein Fragenkatalog für eine weitere Studie. Anhand von Interviews fand Aron heraus, dass etwa 20 Prozent der Menschen ungefähr so beschaffen waren wie sie selbst. Ihre Forschungsergebnisse präsentierte sie 1996 in ihrem Buch „The Highly Sensitive Person“, das bis heute als Standardwerk gilt.
Wie erkennt man Hochsensibilität?
Elaine Arons Fragebögen sollten eigentlich nur als Grundlage für die Auswertung von Verhaltensweisen unter Studienbedingungen dienen und waren nicht dazu angelegt, als Test im klinischen Alltag verwendet zu werden. Bis heute wird jedoch aufgrund ihres Fragenkataloges versucht, Hochsensibilität zu erkennen. Es gibt viele Tests im Internet, die beanspruchen, Hochsensibilität messen zu können. Sie bedienen das Sicherheitsbedürfnis der Anwender, können aber wissenschaftlichen Kriterien nicht genügen. Diese sind: objektiv (unabhängig vom Anwender und der Situation), reliable (also reproduzierbar) und valide.
Klingt einfach, aber im Zusammenhang mit Menschen und ihren Empfindungen sind diese Kriterien bisweilen nahezu unerfüllbar. Jeder noch so gute Test kann darüber hinwegtäuschen, dass Selbst- und Fremdeinschätzung oft weit auseinanderliegen – und nicht jeder, der sich für feinfühlig hält, ist es auch. Insofern ist vielleicht tatsächlich hilfreicher, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass unabhängig vom Label, die jeweiligen Betroffenen immer mit sich selbst und ihrer Beschaffenheit zurechtkommen müssen – genauso wie ihre jeweiligen Behandler.
Wohlgemerkt, Hochsensibilität ist keine Diagnose an sich, aber auch ein Hochsensibler kann erkranken und reagiert dann anders als Nicht-Hochsensible Patienten. Anders formuliert: Jeder Mensch hat eine individuelle Art wie er krank und auch wie er wieder gesund wird. Nur aufgrund einer hohen Ähnlichkeit davon auszugehen, dass wir alle gleich reagieren, ist zwar nachvollziehbar, aber deswegen noch lange nicht vollständig richtig. Jeder Behandler kennt die Gruppe der Patienten, die sich mit ihren Reaktionen einfach nicht an die Richtlinien oder Dosierungsempfehlungen halten, die wir unter EBM Kriterien (Evidenzbasierte Medizin) empfehlen.
Praxiserfahrung
In meiner Praxis sind es jene Patienten, die nicht nur intensiv auf Worte und Maßnahmen reagieren, sondern deren Geschichten irgendwie nicht ganz passen wollen. Einerseits ist erkennbar, dass alle vorherigen Maßnahmen methodisch korrekt waren, andererseits aber die Behandlungsergebnisse dem nicht entsprechen, manchmal sogar drastische Verschlechterungen eingetreten waren. In der Naturheilkunde spricht man diesbezüglich von paradoxen Reaktionen, so wird beispielsweise eine eigentlich beruhigende Substanz wie Lavendel mit Nervosität beantwortet, auch wenn nicht überdosiert wurde, was die Reaktion plausibel machen würde.
Diese Phänomene sind keine Erklärung für die manchmal verwirrenden Reaktionen Hochsensibler im Praxisalltag. Auch die ihnen nachgesagte Stressinstabilität oder Syndrome wie Leaky Gut oder Metabolisches Syndrom sind keinesfalls geeignet, dem Persönlichkeitsmerkmal selbst auf die Spur zu kommen. Sie sind nur konsequenter physiologischer Ausdruck einer intensiveren Reizwahrnehmung und deren komplexeren Reizverarbeitung. Diese ist zwar darstellbar, aber ob sie exklusiv dem Hochsensiblen vorbehalten ist, ist mehr als zweifelhaft.
Veränderung mess- oder darstellbar?
Immerhin ist die Darstellung komplexer hirnorganische Verarbeitung äußerer Reize im bildgebenden Verfahren (PET) möglich. Aus Kostengründen ist diese Methode nicht praxistauglich. Eine andere Möglichkeit stellt die Messung der HRV (Herz-Raten-Variabilität) dar, die sowohl Diagnose- als auch Behandlungsinstrument sein kann, wenn es darum geht, der Stressfalle zu entfliehen. Wieder ein Verfahren, das nicht in jeder Praxis zur Verfügung steht und einen zusätzlichen Kostenfaktor darstellt – und darüber hinaus messen weder das PET noch die HRV exklusiv das Merkmal Hochsensibilität. Vielmehr geben sie die Möglichkeit etwas zu messen, was einerseits zum Thema der Hochsensibiliät passt, andererseits aber eben auch zu vielen Erkrankungen.
Es bleibt also nur die Beobachtung, der Fragenkatalog, die genaue Anamnese und daraus resultierend die persönliche Entscheidung des Behandlers, mit der die Wahrscheinlichkeit einer vorliegenden Hochsensibilität definiert wird. Denn wie gesagt: Hochsensibilität ist ein umfassendes Merkmal, das alle Lebensbereiche einschließt und das ganze Wesen eines Menschen betrifft und beeinflusst.
Nun sind auch Hochsensible keine homogene Gruppe, was eine weitere Herausforderung in der Praxis darstellen kann. Nach Elaine Aron verhalten sich 30 Prozent aller Hochsensiblen nicht introvertiert, sondern extrovertiert. Das Persönlichkeitsmerkmal zeigt sich also nicht an der Oberfläche im Sinne von Introvertiertheit, sondern die Empfindsamkeit schimmert quasi zwischen den Zeilen hindurch. Eines ist jedoch immer richtig: Hochsensible nehmen ihre Umgebung in allen Aspekten intensiver wahr und denken mehr darüber nach. Dieses Verhalten lässt mich im Praxisalltag immer genauer aufmerken, wenn es sich mir präsentiert.
Was bedeutet Hochsensibilität?
Zunächst bedeutet es, mit einer irgendwann einmal in der Evolution gebildeten, alternativen Überlebensstrategie der Natur ausgestattet zu sein, die bis heute Vorteile bringt. Wenn also ein Mensch über eine ausgeprägte Sinneswahrnehmung und -verarbeitung verfügt, wird er vermutlich andere Zusammenhänge herstellen, die andere vielleicht nicht sehen, weil sie weniger vernetzt denken. Das kann dazu führen, dass Hochsensible seismografisch genau auf ihre Umgebung reagieren. Damit können sie Veränderungen herbeiführen, die allgemein nützen.
Ganz allgemein ist es schwierig, wenn Menschen in ihrer Beschaffenheit früh gestört werden, man sie also abwertet. Der Unterschied zwischen Hochsensiblen und Nicht-Hochsensiblen liegt darin, dass ein Hochsensibler von einem positiven Umfeld ungleich mehr profitiert und umgekehrt unter einem negativen Umfeld größeren Schaden erleiden. Die oft beschriebenen Krankheitshäufungen bei Hochsensiblen sprechen also die Sprache früh gestörter Hochsensibilität und nicht die Sprache des Persönlichkeitsmerkmals an sich.
Was passiert bei falscher Behandlung?
Falsche Behandlung macht den Hochsensiblen kränker – kommt er mit einer Erkrankung in die Praxis, somuss die Kenntnis und Integration der eigenen Beschaffenheit als wesentlicher Faktor für gelingende Behandlung angesehen werden und zwar auf beiden Seiten. Tatsächlich kann der grundsätzliche Weg aus der Irritation nur dann gelingen, wenn sich sowohl Patient als auch Behandler dieses Zusammenhangs bewusst sind und zwar bei jeder Maßnahme, die in Betracht gezogen wird. Die komplexe innerkörperliche Verarbeitung äußerer und innerer Reize schafft ein Riesenfeld möglicher Symptome, die dann fälschlicherweise mit schweren Erkrankungen verwechselt werden können, obwohl sie nur Ausdruck eines irritierten, gestressten Körpers sind.
Um solche Fehldiagnosen zu vermeiden, ist nur eine ganz genaue und konsequente Anamnese und Diagnostik nach dem Prinzip des Ausschlussverfahrens geeignet. Dabei sollte der Patient genau verstehen, warum der Behandler so sorgfältig vorgeht, um nicht in unnötige Ängste zu geraten, die dann zusätzliche Symptome hervorrufen würden. Das ist nicht mit Hypochondrie zu verwechseln, sondern mit einem Gefahrenempfinden mit der Genauigkeit eines Seismografen. Die Wahrnehmungswelt des Hochsensiblen besteht immer aus der eigenen Wahrnehmung und der Wahrnehmung des Gegenübers. Diese Wahrnehmungswelten zu identifizieren und genau den Kontakt zur eigenen zu behalten, ist eine der wesentlichen Anforderungen mit sich selbst gut umgehen zu können.
Für Hochsensible gibt es einen wesentlichen Motor, der sie funktionieren lässt, nämlich die Notwendigkeit, dem eigenen Handeln und Sein einen Sinn zu geben. Sie erkranken buchstäblich daran, wenn sie diesen Impuls nicht fühlen können. Kompromisse an dieser Stelle sind tatsächlich nicht möglich. Diese wesentliche Erfahrung mache ich täglich in meiner Praxis. Gelingt es, sich mit dieser Aufgabe zu verbinden, nimmt der Grad an Belastbarkeit und Gesundheit exponentiell zu.
Interessanterweise könnten Hochsensible viel besser im Umgang mit Stress als andere Menschen sein. Ihre natürliche Ausrichtung alles intensiver wahrzunehmen und darauf unmittelbar zu reagieren, macht sie eigentlich besonders anpassungsfähig. Die wesentliche Voraussetzung ist allerdings, dass der Hochsensible seine eigene Beschaffenheit kennt und in ihr bestätigt wurde. Fehlt diese Erfahrung, ist der Behandler gefragt, diese zu ermöglichen und zwar so, dass der Patient sich selbst bestätigen lernt.
Ausblick
Per Definition sind Persönlichkeitsmerkmale angeboren und gelten damit als unveränderlich. Das schließt aber nicht aus, sie zu trainieren und sie darüber optimieren zu können. Das gilt auch für Denken, Fühlen, Empfindung und Intuition, die intro- und extrovertiert gelebt werden können.
Angesichts der Tatsache, dass die von Elaine Aron angebotenen Zahlenverhältnisse von Hochsensiblen in einer Gesellschaft noch immer sehr umstritten sind, gewinnt für mich noch einmal eine Typisierung nach Jung an Bedeutung. Er beschrieb die INFJ-Persönlichkeit, die in sich folgende psychologische Merkmale vereint: Introvertiertheit (IN) mit Intuition (IN), Empathie (feeling – F) und Urteilsvermögen (judgement – J). Dieser Persönlichkeitstyp gilt als idealistisch, fest in seinen Werten, sehr sensibel, selbstsicher und immer darauf aus, das Leben anderer zu verbessern. Auf Hochsensible, die in ihrer Kraft sind, trifft das sehr häufig zu. Ob umgekehrt jeder INFJ auch hochsensibel sein muss, bezweifle ich.
Jung ging davon aus, dass nur auf ein Prozent der Bevölkerung diese Kombination zutrifft. Erstaunlicherweise sind wir bis heute nicht in der Lage über das Stadium der Hypothese hinauszuwachsen.
Phänomene wie Hochsensibilität sind nicht Ausdruck einer Pathologie, sondern vielmehr gesunde Varianten des Menschseins, die je nach Zeitgeist vermehrt im Rampenlicht stehen. Menschen brauchen das Gefühl von Verbundenheit, denn Krankheit kann immer dann entstehen, wenn wir von uns selbst abgetrennt sind. Hochsensible sind Indikatoren für diesen Umstand. Dies konsequent in ihre Therapiekonzepte zu integrieren bleibt weiterhin eine Aufgabe.
Autorin: Mechthild Rex-Najuch
Der zweite Teil der Miniserie „Wesensart statt Diagnose: Hochsensibilität“ von Mechthild Rex-Najuch erscheint voraussichtlich in der kommenden Woche.