Autorin: Jutta Böttcher in Mystica TV
Sind hochsensible Menschen Pioniere in einem sich vollziehenden Paradigmenwechsel? Wahrscheinlich schon, und das oft ganz ohne es zu merken! Die eigene Hochsensibilität bleibt von den Betroffenen nicht selten unentdeckt oder wird missgedeutet. Allein die Wahrnehmung „normaler“ Aktivitäten – wie gemeinsames Fahrrad fahren – kann für diese Menschen sehr intensiv sein. Hier das Beispiel einer solchen Erfahrung anhand einer wahren Geschichte…
Dieser Tag begann wie viele andere auch mit ganz alltäglichen Herausforderungen, und doch ist er mir als ein Tag einer besonderen Begegnung in Erinnerung geblieben.
Seit Tagen streikte unser gesamtes Kommunikationssystem. Daher waren wir für unsere Klienten weder per Telefon noch per Email erreichbar. Inzwischen verzweifelte ich an dem vergeblichen Bemühen eines Technikers von der Störungsstelle, mir per Mobiltelefone aus der Patsche zu helfen. Am Ende meiner Geduld angelangt, forderte ich daher energisch den Besuch eines Technikers vor Ort, damit unser Problem nun endlich gelöst werden könnte.
Tatsächlich kam er noch am selben Tag. Und mit seinem Erscheinen löste sich nicht nur unser Kommunikationsproblem, sondern es geschah auch etwas Überraschendes.
Kaum hatte er die Eingangstür unseres Beratungs- und Seminarzentrums durchschritten, blieb er wie angewurzelt stehen und sah sich um. Er atmete tief ein und schloss für einen kurzen Moment die Augen, bevor er mich zu meinem Erstaunen fragte: „Was haben Sie hier gemacht? Hier ist etwas völlig anders als da draußen“ – und wies auf die Welt vor der Tür.
Anstatt ihn sofort in den Serverraum als Ort des Problems zu führen, das der eigentliche Anlass seines Besuches war, setzten wir uns zunächst für einen Moment auf die Bank in unserem Eingangsbereich. Dort berichtete er von seinem Empfinden:
„Hier ist es sofort viel ruhiger – eine Stille, die den ganzen Raum und mich gleich mit erfüllt. Ich kann tiefer atmen und merke, wie mein ganzer Körper sich entspannt.“ Erstaunt stellte er weiter fest: „Ich spüre den Druck viel weniger, der sonst durch die Erwartungen des Kunden und die wenige Zeit, die ich zwischen den einzelnen Aufträgen habe, immer entsteht. Ich kann sagen, dass ich mich gerade weniger gestresst fühle. Diese Farben und die großen, weiten Räume machen so etwas wie ein freundliches Gefühl in mir. Es lässt mich lächeln“, und damit schaute er mich freundlich an. Mit einem Kopfschütteln fuhr er fort: „Wissen Sie, nichts gegen Sie. Aber ich bin gerade aus meinem Auto gestiegen, eigentlich schon fast sauer über diesen zusätzlichen kurzfristigen Auftrag von einem Kunden, der es wieder einmal nicht hinbekommt… und nun das… eine ganz andere Welt. Was tun Sie denn hier?“
Und so führten wir ein kurzes Gespräch über die Arbeit für hochsensible Menschen, die wir an diesem Ort anbieten. Die Bezeichnung „Hochsensibilität“ hatte er zwar schon einmal gehört, sie aber noch nie mit einer Erfahrung von sich selbst in Verbindung gebracht. Vielmehr äußerte er eher Skepsis gegenüber einer Eigenschaft, die nach seiner Einschätzung eher mit Überempfindlichkeit und Leistungsschwäche assoziiert werden musste – nicht nur aus seiner Sicht Eigenschaften, die einer erfolgreichen beruflichen Laufbahn in unserer komplexen und schnelllebigen Welt ganz klar entgegen stehen würden und daher eher abzulehnen wären.
Und dennoch hatte gerade seine sofortige und detailreiche Wahrnehmung der Raumqualität gezeigt, dass er selbst möglicherweise zu den Hochsensiblen gehören könnte.
Für ein ausführliches Beratungsgespräch, das er jetzt sicher gut hätte gebrauchen können, gab es keine Zeit. So überlegte ich rasch, welche Fragen ihm den Raum geben würden, sich selbst besser zu verstehen und ohne Vorurteile mit dem Phänomen in Verbindung zu treten.
Natürlich hätte ich ihm auch raten können, einmal die zahlreichen, im Internet verfügbaren Fragebögen zu beantworten. Aber ich wollte ihm einen Bezug zu seinem eigenen Erleben als wesentlichen Schlüssel zu einem tieferen Verständnis des Phänomens ermöglichen. Das war auch der amerikanischen Psychologin Elaine Aron[1] klar, als sie Mitte der 90er Jahre einen Fragebogen entwickelte, der es ihr gestatten sollte, mit anderen, ähnlich empfindenden Menschen als Grundlage der beabsichtigten Forschungsarbeit in Kontakt zu treten. Der von ihr entwickelte und heute als Test verwendete Fragebogen war also nie als ein solcher geplant.[2]
Inzwischen ist dieser Fragebogen durch Dr. Sandra Konrad[3] im Rahmen ihrer Dissertation validiert worden. Dennoch ist es bisher nicht gelungen, einen eindeutigen Schwellenwert für das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Hochsensibilität zu ermitteln wie das z.B. bei der Testung von Hochintelligenz möglich ist. Von daher sind derart ermittelte Testergebnisse mit Vorsicht zu betrachten. Viel wichtiger ist es in einem ausführlichen Gespräch nachzuvollziehen, ob die Kriterien von Hochsensibilität durchgängig im Leben eine Rolle gespielt haben. Dazu fehlte mir in diesem Gespräch die Zeit. Ich musste mir etwas anderes überlegen und so zäumte ich das Pferd von hinten auf.
Ich fragte ihn, ob er es häufig wäre, der zu komplizierten Kunden wie mich geschickt werden würde.
Er antwortete prompt: „Ja tatsächlich – und das ärgert mich manchmal richtig. Oft sind schon andere Kollegen vor mir da gewesen und haben das Problem nicht lösen können. Ich frage mich dann, wie das angehen kann, weil ich in kurzer Zeit erkenne, wo der Hase im Pfeffer liegt. Ich meine, ich bin weder etwas Besonderes, noch sind meine Kollegen unfähig. Wir haben schließlich alle die gleiche Ausbildung durchlaufen. Und doch gibt es immer wieder eine solche Situation. Hat das etwa auch etwas mit Hochsensibilität zu tun?“
Ich erklärte ihm, dass Reizoffenheit, wie sie mit Hochsensibilität verbunden ist, nicht nur eine hohe Beschäftigung des Autonomen Nervensystems in der Reizverarbeitung bedeute, sondern zugleich auch die Verfügbarkeit von vielen Informationen, die in Zusammenhang gebracht werden können. So gesehen sei Hochsensibilität eine Form von vernetzter Wahrnehmung.[4] Sie gestatte den hochsensiblen Menschen, das „Ganze“ zu sehen oder – anders ausgedrückt – vom Ergebnis her zu denken.
„Wenn Sie also ganz natürlich die Fähigkeit mitbringen, das „Problemgewebe“ Ihres Kunden zu verstehen, dann haben Sie auch andere Lösungsangebote parat als Ihre Kollegen, die diese Sichtweise nicht teilen können“, ließ ich mein Gegenüber wissen.
Erstaunt blickte er mich an. „So habe ich das noch nie betrachtet. Aber ja – das könnte stimmen. Dann wird mir auch klar, warum ich oft im Gespräch Dinge erwähne, die meinen Kollegen weder auffallen, noch bedeutsam erscheinen würden.“
In wenigen Sätzen berichtete er mir weiter, wie sehr er nicht nur im beruflichen, sondern auch im privaten Umfeld wahrnehmen würde, dass er „anders“ wäre. Besuche des Fußballstadions und anschließende Treffen, um das Spiel noch bei einem Bier in der Kneipe zu diskutieren, zu denen sich seine Kollegen auch in ihrer Freizeit verabredeten, waren ihm verhasst. Ging er dennoch mit, weil er sie ja eigentlich schätzte und sich nicht dauerhaft ausschließen wollte, bezahlte er für diese Überschreitung seiner Grenzen noch am selben Abend, spätestens jedoch am folgenden Tag mit Kopf- und Bauchschmerzen sowie völliger Erschöpfung. Er verurteilte sich dafür, auf diese Weise immer wieder zur „Spaßbremse“ zu werden und fand das unmännlich.
Er tat sich sichtlich schwer damit zu bekennen, ganz eindeutig ein Freund der leisen Töne zu sein – was nicht nur in seinem Kollegenkreis, sondern ganz allgemein unter den Menschen seiner Altersklasse eher unüblich wäre. So kostete es ihn fast Überwindung, mir zu erzählen, wie sehr er die Radtouren mit seiner Freundin und ihrem Hund in die Natur genoss und wie wichtig es ihnen beiden war, ihren schönsten Platz gemeinsam zu genießen und dass er diese Aktivität jeder anderen „lauten“ Freizeitgestaltung vorziehen würde.
Wie so oft erlebte ich damit auch an ihm den Konflikt so vieler hochsensibler Menschen, der aus der Zerreißprobe zwischen einer starken Bezogenheit auf innere Werte – wie sie sich aus der vernetzten Wahrnehmungsfähigkeit der Hochsensiblen herausbildet – und der Notwendigkeit entsteht, in einer äußeren Welt, die auf ganz anderen Wertvorstellungen basiert, funktionieren zu müssen. Dieser für viele Hochsensible so schwer zu ertragende Konflikt ist also ein tiefer innerer Wertekonflikt.
Ein derartiger innerer Spagat verlangt hochsensiblen Menschen unglaublich viel Kraft ab, so dass sie bestimmte Grenzen einfach nicht überschreiten können, ohne dass ihr Körper über zahlreiche Symptome beredtes Zeugnis seiner Stress-Situation ablegt.
Bleibt diese Situation über längere Zeit erhalten, dann zeigen sich die typischen Erscheinungen von Dauerstress wie z.B. völlige Erschöpfung, Depression, eine hohe Infektanfälligkeit, Chronische Magen-Darm-Erkrankungen und Muskelverspannungen sowie eine hohe Schmerzempfindlichkeit u.v.m.
Die Befürchtung vieler Hochsensibler, damit endgültig den Anschluss zu verpassen und nicht mehr dazuzugehören, erhält auf diese Weise neue Nahrung und wird nicht selten zur Quelle tiefer Verzweiflung.
Aber so verständlich diese Schlussfolgerung auch sein mag: Tatsächlich machen gerade diese Erscheinungen hochsensible Menschen zu den Seismographen unserer Gesellschaft. Hochsensible zeigen auf diese Weise das Ende der Regulationsfähigkeit ihres Autonomen Nervensystems. Damit sind sie gezwungen, Wege für sich zu suchen, aus der übermäßigen Aktivierung des anregenden Teils ihres ANS[5], dem Sympathikus, wieder zu mehr Ausgeglichenheit über eine angemessene Aktivität des entspannenden Teils ANS, nämlich des Parasympathikus, zu gelangen. Das geschieht z.B. über ein gezieltes Training der sog. Vagusbremse[6], die ein Überschießen des Sympathikus verhindert.
Sowohl das Leid der Hochsensiblen an dieser Grenze wie auch ihre Lösungsansätze, es zu überwinden, werden jedoch zunehmend, auch für originär nicht hochsensible Menschen, immer bedeutsamer. Denn unsere komplexe Welt bringt auch viele von ihnen an eben jene Grenze, an der sie beginnen, „hochsensibel“ in der zuvor schon beschriebenen Art und Weise zu reagieren. Da viele originär Hochsensible quasi als „Pioniere wider Willen“ für diese Situation bereits Lösungen entwickeln mussten, kann nun auf etwas zurückgegriffen werden, das allen zugutekommt.
Ein hochsensibles Leben ist ein Leben voller emotionaler Intensität. Kein Wunder also, dass Hochsensible ebenso überdurchschnittlich unter belastenden Situationen leiden wie sie auf der anderen Seite auch von Unterstützung und positiven Erfahrungen profitieren können.[7]
Vordergründig betrachtet ließe sich demnach auch vermuten, dass nach schweren Erfahrungen Schmerz und mangelnde Regulationsfähigkeit das Leben eines hochsensiblen Menschen dominieren müssten. Ein derart schweres Los wird nach den Aussagen von Elaine Aron Hochsensible am ehesten dann treffen, wenn sie unter einer Kindheit mit frühen Traumatisierungen zu leiden haben.[8] Aber auch in dieser Situation gilt, dass die Natur keine Fehler macht. Einer Belastung stellt sie auch die Lösung in Form eines Talents zur Seite. In diesem Fall präsentiert sich dieses Talent genau in der Besonderheit der Hochsensiblen – in ihrer weiten und häufig die Grenzen der allgemeinen Norm sprengenden Wahrnehmungsfähigkeit sowie dem damit verbundenen tiefen inneren Erleben.
„Und wie ist Ihr Erleben, wenn Sie mit Ihrer Freundin Ihren Lieblingsplatz beim Radeln erreicht haben?“, fragte ich daher nun ganz bewusst, um diesen Pol von Hochsensibilität einzuladen. Wie ich vermutet hatte, antwortete der junge Mann:
„Das ist toll. Wir beide müssen dann gar nichts sagen. Wir sind zusammen ganz still, vergessen die Zeit und sind eher wie in einem gemeinsamen Raum. Neulich habe ich bemerkt, dass wir dann so entspannt sind, dass wir fast im gleichen Rhythmus ganz tief ein- und ausatmen. Meine Freundin sagt dann immer, dass sie auf diese Weise ihre Engel spürt. Sie ist da sehr offen, weil sie sich viel mit Spiritualität befasst. Ich finde das zwar spannend, aber habe mich bisher nicht so sehr daran gewagt. Aber ich gebe ihr recht: Diese Stille ist sehr besonders. Wenn ich mich irgendwo verbunden fühlen kann mit etwas, das ich nicht beschreiben kann, dann dort.“
Bewegt erklärte ich meinem jungen Gast, dass sich die Gabe und wesentlichste Ressource aus der Hochsensibilität kaum exakter hätte beschreiben lassen können: die Begegnung mit Schönheit – ob nun in der Natur oder in Kunst und Musik – trifft auf die ausgeprägte ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit des hochsensiblen Menschen. Sie erzeugt tiefe Freude und Entspannung sowie ein Wohlbefinden, das weit über eine rein leibliche Erfahrung hinausgeht. In der Sprache der Salutogenese[9]nennt man diese Gefühle „Kohärenzgefühle“, die sich als tiefe, stimmige Verbundenheit mit sich selbst oder einer je größeren Instanz beschreiben lassen. In jedem Falle stellen sie eine tief berührende innere Erfahrung dar – manchmal so intensiv, dass sich danach im Leben etwas dauerhaft verändert.
An einem kurzen Aufblitzen seiner Augen erkannte ich, dass er sofort wusste, wovon ich sprach: Er hatte sie also auch schon erlebt, jene kostbaren Momente einer Gipfelerfahrung, die hochsensible Menschen offenbar deutlich häufiger machen dürfen als ihre weniger sensiblen Mitmenschen.
Stille entstand zwischen uns. Sie fiel förmlich in den Raum. Längst hatten wir die Zeit überschritten, die in „der äußeren Welt“ für die Erledigung seines eigentlichen Auftrages zur Verfügung gestanden hätte. Dieser Auftrag war unwichtig geworden.
Wir waren gerade gemeinsam in einen Raum tiefer Berührung und Berührbarkeit eingetaucht, der öffnend wirkte und seinen eigenen Gesetzen gehorchte.
Ich erinnere mich, wie er weiche Züge bekam und mit einer raschen Geste seine Tränen wegwischte: „Es ist gerade ein bisschen wie in der Stille nach dem Radeln“, bekannte er.
„Ich wusste es im ersten Moment als ich eintrat. Hier ist etwas anders. Jetzt verstehe ich gerade, was meine Freundin meint, wenn sie von ihren Engeln spricht. Etwas ist gerade anwesend geworden, ohne dass ich sagen könnte, was es ist“, fuhr er leise fort.
Wir schwiegen wieder und atmeten fast synchron in diesen Raum hinein.
Wie geht die Geschichte weiter? Lesen Sie weiter auf Mystica TV.
Autorin: Jutta Böttcher