Verkörperte Spiritualität

Verkörperte Spiritualität: Warum wir unseren Körper brauchen, um Spiritualität (er)leben zu können – Autorin: Andrea Wandel.

Ein altes Paar sitzt schweigend auf einer Bank und schaut einvernehmlich in die Ferne. Sie brauchen sich ihre Liebe gegenseitig nicht mehr zu beweisen, schon gar nicht durch Worte. Der geteilte Anblick auf die glitzernden Berge im Abendlicht und der Geruch frischer Bergkräuter in der Luft, die sie beide einatmen, sind ihnen Verbindung genug. Sie wissen umeinander und dürfen sich aus einer verbundenen Unverbundenheit ihrer eigenen Welt hingeben. Die Haltung dieses Paares ist ausgerichtet in die Schönheit des Raumes, in dem sie sich befinden, und in diesem Raum gönnen sich ihre eigene Welt, die mit einer nicht zur Schau gestellten Demut durchtränkt ist. Sie sind füreinander da, ohne sich ineinander zu verlieren. 

Eine spirituelle Kraft geht von ihnen aus. Sie schenkt dem Betrachter Harmonie, Frieden und eine gesunde Dosis Sehnsucht. In der Szene um das alte Paar geht es nicht mehr um Besserwisserei oder um das Erreichen irgendwelcher Ziele. Durch diese Zeiten sind sie längst hindurchgegangen und haben sich in ihrer Körperlichkeit transzendiert. 

Erst wenn wir atmen, „begeistigen“ wir uns

Selbst, wenn sie ihre Körper nicht mit Fitness und ständiger Aufmerksamkeit beschenken, gehen sie würdevoll mit ihrer eigenen Verkörperung um. Denn ohne den Körper könnte die Spiritualität nicht sein. Zwar definieren wir Spiritualität landläufig als etwas rein Geistiges, tatsächlich kommt der Begriff „Spirit“ jedoch vom lateinischen Wort „Spiritus“, was „Hauch“ bedeutet und somit viel mit Atmung zu tun hat. „Spiro“ heißt „Ich atme“. Und atmen kann nur, wer einen physischen Körper besitzt. Erst wenn wir atmen, „begeistigen“ wir uns, indem sich die verkörperte Inspiration ihren Weg durch unseren Körper sucht – und findet. Dafür müssen wir nicht einmal bewusst sein. Auch im Tiefschlaf ernährt die Atmung unseren Körper hinein in jede Zelle. 

Dann gibt es die buchstäbliche Verkörperung, die sich nach der Einheit – ich persönlich liebe den Begriff „Einigkeit“ – in die Trennung begeben hat, um eben die Individualität und komplette Identifikation mit der Körperlichkeit zu erleben. Stellen Sie sich eine Eizelle vor: Sie ist im Verhältnis zu den Samenzellen gigantisch groß. Sie schwebt durch Raum und Zeit und macht sich bereit für eine eventuelle Empfängnis. Manchmal gelingt ein Tanz zwischen den vielen Spermien und der Eizelle, die sich miteinander verständigen über eine bewegte Kommunikation, der nonverbalen Sprache des Universums, und ein neues Wesen bildet sich.  

Einem Embryo können wir das Universum nicht erklären, da es sich aus sich selbst begreift. Ein sich verkörpernder Geist bezieht sich auf die Einheit und braucht kein mentales Konstrukt, um zu „begreifen“ was Spiritualität ist. 

Wie das Erlernen eines hochkomplexen Tanzes

Einem Jugendlichen, der sich in die Individualisierung hineinbegeben musste und dem das Vergessen des Ursprungs zur zweiten Natur geworden ist, wird das Bild des alten Paares vermutlich nicht weiter auffallen. Er besitzt diese Reflexionsfähigkeit noch nicht und darf noch ein paar Zwischenschritte einlegen, um dann irgendwann auch dorthin zu gelangen. Und das Eine ist nicht besser als das Andere. Ich vergleiche das gerne mit dem Lernen eines hochkomplexen Tanzes. Zuerst dürfen die einzelnen Schritte gelernt werden, bevor sich die Magie der ganzen Choreografie entfaltet und in der Bewegung ihren Ausdruck findet. Das heißt nicht, dass wir den Tanz in seiner Vollkommenheit nicht schon erfühlt und erlebt haben, in dem wir ihn das erste Mal gesehen haben. Aber die wirkliche Ausführung mit einem physischen Körper geht nur durch wiederholte Übung. 

Wäre dem nicht so, dann bräuchten wir uns als vergeistigte Wesen einfach nur etwas vorstellen und zack-zack würde es sich schon erfüllt haben. Unser physischer Körper erlaubt das jedoch nicht. Extrem feinfühlige und hochintelligente Menschen haben eventuell die Fähigkeit, schneller als andere etwas zu lernen und umzusetzen, aber auch bei ihnen geht es nur durch die wiederholte Tätigkeit. 

Viele Hochsensible haben ihre Heimat in der Einheit nicht vergessen

Die verkörperte Spiritualität geht nur über den Körper. Nur er hat die Fähigkeit, sich zu formen und sich ständig aufs Neue zu entwickeln. Dazu gehört auch das Vergessen der Einheit, da es ansonsten keinen Sinn machen würde, sich wieder und wieder in die häufig so schmerzhafte Identifikation zu begeben. Viele Hochsensible haben ihre Heimat in der Einheit nicht vergessen und wollen lieber früher als später dorthin zurückkehren. Da wird das Geschenk manchmal zur Qual. 

Nun noch aus der anderen Perspektive betrachtet: 

Spirituelle Verkörperung

Eine Seele zieht ihre Runden über die Erde und möchte sich gerne verkörpern. Dort, wo sie ist, gibt es diesen physischen Körper nicht und alles in ihr sehnt sich danach, sich mit einem Körper zu identifizieren. Sie möchte alles auf sich nehmen und weiß noch nicht, was die Sinnhaftigkeit der Sinne wahrhaftig bedeutet. Wir wissen als Menschen nicht wie diese Seelen- Reise wirklich verläuft, aber anscheinend macht diese Erde Lust auf mehr; nämlich die verkörperte Erfahrung von Identifikation mit allem, was Kreativität bedeutet. Zum Beispiel: Gedanken erfassen, Emotionen fühlen, Verbindungen über den Körper spüren. Reflexe unbewusst erleben und vielleicht überwinden, einen beobachtenden Geist entwickeln, Bewegungen ausführen, Schwerkraft fühlen. Körpersensationen wahrnehmen, Kälte und Wärme spüren, Lust auf Gerüche und Speisen. Einfach alles auszuprobieren, was mit den Sinnen zu tun hat und eine Selbst- Effektivität spüren, die etwas bewegen kann.

Wenn sich die Seele spirituell verkörpert, muss sie erst vergessen, um sich dann in langsamen (Menschen)-Schritten wieder zu erinnern. Wenn die Erinnerung geglückt ist, sitzt sie mit einer anderen Seele auf einer Bank und genießt das Sein im Hier und Dort. 

Autorin: Andrea Wandel

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